Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG wegen Unmöglichkeit der Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts

Die Voraussetzungen dafür, dass feststellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegt, sollen im Folgenden dargelegt werden. Der besondere Fokus des Artikels liegt auf dem Aspekt der Unmöglichkeit der Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts. Vorweggenommen werden kann bereits, dass die Anforderungen hier hoch sind und insbesondere arbeitsfähigen Männern viel durch die Rechtsprechung zugemutet wird.

Maßgeblicher Zeitpunkt 

Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist nach § 77 Absatz 1 AsylG der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung auf der Grundlage der in diesem Zeitpunkt vorliegenden aktuellen Erkenntnisse (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – juris Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris Rn. 9)

Unzulässigkeit der Abschiebung gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention erforderlich

Gemäß § 60 Absatz 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. 

Dabei sind alle Verbürgungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in den Blick zu nehmen, aus denen sich ein Abschiebungsverbot ergeben kann. Erfasst ist unter anderem das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in welchem dem Ausländer Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Artikel 3 EMRK droht. 

§ 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in begründeten Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK begründen (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12, Juris).

Bei der Entscheidung darüber, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr von Misshandlungen im vorstehend beschriebenen Sinn besteht, müssen die absehbaren Folgen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Bestimmungsland und der besonderen Umstände des Betroffenen geprüft werden.

Eine Abschiebung kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der Konvention dabei nur begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Behandlung ausgesetzt zu werden, die Artikel 3 EMRK widerspricht (EGMR, Urteil vom 4. November 2014 – Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 m.w.N.).

Dieser Prognosemaßstab entspricht im Ansatz dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteile vom 1. März 2012 – 10 C 7.11 – und vom 27. April 2010 – 10 C 5.09, Juris).

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK liegt nach diesem Maßstab vor, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine drohende Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Für die Beurteilung sind alle festgestellten Umstände und ihre Bedeutung zu gewichten und abzuwägen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen eine Rückkehr in das Heimatland als unzumutbar einzuschätzen ist (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12, zitiert nach Juris). Dies setzt voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. 

Unmöglichkeit der Sicherung des existenziellen Lebensunterhalts

Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat, die ganz oder in erster Linie auf Armut oder auf fehlende staatliche Mittel zurückzuführen sind, um mit auf natürlichen Umständen beruhenden Gegebenheiten umzugehen, können aber in Anwendung des in einem solchen Fall maßgeblichen (vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2011– 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 282), im Verfahren N. v. The United Kingdom entwickelten strengen Maßstabs in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung sprechen, zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen (vgl. EGMR, Urteile vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 278; vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 75; siehe auch EGMR, Urteil vom 13.12.2016 – 41738/10 [Paposhvili v. Belgium] – HUDOC Rn. 183 zu solchen ganz besonderen Ausnahmefällen).

Nur wenn die schlechten humanitären Verhältnisse im Abschiebungszielstaat primär auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen dortiger Konfliktparteien zurückzuführen sind, hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen im Verfahren M. S. S. v. Belgium and Greece (Urteil vom 21.1.2011 – 30696/06 – HUDOC) entwickelten und im Verfahren Sufi and Elmi v. The United Kingdom (Urteil vom 28.6.2011, – 8319/07 und 11449/07 – HUDOC Rn. 282 f.) auch im Hinblick auf die humanitären Bedingungen in Flüchtlingslagern in Süd- und Zentralsomalia angewandten weniger strengen Maßstab für besser geeignet, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK festzustellen (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 77). Danach muss die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu befriedigen, weiter seine Anfälligkeit für Fehlbehandlungen sowie seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (vgl. EGMR, Urteil vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H. v. The United Kingdom] – HUDOC Rn. 89 ff.).

Somit kann ein Abschiebungsfall vorliegen, wenn ein Ausländer im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Einer weitergehenden „abstrakten Konkretisierung“ ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr müssen im Übrigen alle Umstände des Einzelfalls gewürdigt werden (BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18, zitiert nach Juris). 

Grund dafür, dass die Sicherung des Lebensunterhalts unmöglich ist, kann eine Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auch ein Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen sein (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18, zitiert nach Juris).

Hoher Maßstab bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben

Bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ist ein sehr hohes Schädigungsniveau erforderlich, da nur dann ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem etwa die humanitären Gründe entsprechend den Anforderungen des Artikel 3 EMRK „zwingend“ sind (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12, zitiert nach Juris; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681). 

Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können deshalb nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen.

Für ein Abschiebungsverbot aus § 60 Absatz 5 AufenthG in Verbindung mit Artikel 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist jedoch nicht erforderlich, dass eine Extremgefahr vorliegt wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG (BVerwG, Beschluss vom 23. August 2018 – 1 B 42.18, zitiert nach Juris).

Sicherung des Existenzminimums durch Tagelöhnerei?

Auch wenn die Lage im Heimatland prekär und sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände schlecht sind, wird arbeitsfähigen Männern durch die Rechtsprechung die Sicherung des Existenzminimums durch Tagelöhnerei zugemutet.

So könne nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es im Heimatland insgesamt an familiären oder sonstigen Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehle, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei allen diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Artikel 3 EMRK erfüllen (so auch Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 – 1 A 198/18.A , zitiert nach Juris).

Das Erwirtschaften eines – wenn auch sehr geringen – Einkommens werde der Gruppe leistungsfähiger nach Afghanistan zurückkehrender Männer trotz des angespannten Arbeitsmarkts wenigstens als Tagelöhner möglich sein (Nds. OVG, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18, Juris unter Bezugnahme auf Nds. OVG, Urteil vom 19. September 2016 – 9 LB 100/15).

Für die grundsätzliche Bewertung für arbeitsfähige Männer ist insbesondere maßgeblich, ob die Betreffenden ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sind und im Heimatland über familiäre beziehungsweise soziale Beziehungen oder andere Unterstützung verfügen (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. November 2020 – 13 A 11421/19, zitiert nach Juris).

Etwas anderes kann gelten bei alleinstehenden Frauen ohne soziale Kontakte und ohne Berufsausbildung (Verwaltungsgericht Stade Urt. v. 13.04.2022, Az.: 6 A 2174/17).

RA Dipl. iur. Marc Heidemann

RA Marc Heidemann konzentriert sich auf das Verwaltungsrecht und deckt eine breite Palette an verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten ab. Seine Schwerpunkte liegen insbesondere im Waffenrecht, Denkmalschutzrecht und Baurecht. Bei verwaltungsrechtlichen Fragen bietet er zudem Unterstützung im Arbeits- und Zivilrecht. Entdecken Sie sein Fachwissen für Ihre rechtlichen Belange.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *