Fortnahme eines Tieres nach dem Tierschutzgesetz wegen Verhaltensstörung nach § 16a Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 TierschG i.V.m. § 2 TierschG

Verhaltensstörung als Grundlage für Fortnahme

§16 a des Tierschutzgesetzes (TierschG) legt fest, dass die zuständige Behörde bei auftretenden Verhaltensstörungen von Tieren Maßnahmen ergreifen kann. Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff ‚Verhaltensstörung‘ im Kontext des Tierschutzes? Hier möchte ich genau dieses Thema näher beleuchten und dabei die Definition sowie die rechtlichen Aspekte von Verhaltensstörungen bei Tieren herausarbeiten.

§ 16a TierschG
(1) Die zuständige Behörde trifft die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. 

Sie kann insbesondere
 
Nr. 1:
im Einzelfall die zur Erfüllung der Anforderungen des § 2 erforderlichen Maßnahmen anordnen,
 
Nr. 2.
Alternative 1: 
(a)   ein Tier, das nach dem Gutachten des beamteten Tierarztes mangels Erfüllung der Anforderungen des § 2 erheblich vernachlässigt ist oder schwerwiegende Verhaltensstörungen aufzeigt, dem Halter fortnehmen
 
(b)  und so lange auf dessen Kosten anderweitig pfleglich unterbringen, bis eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Haltung des Tieres durch den Halter sichergestellt ist; 
 
Alternative 2:
ist eine anderweitige Unterbringung des Tieres nicht möglich oder ist nach Fristsetzung durch die zuständige Behörde eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Haltung durch den Halter nicht sicherzustellen, kann die Behörde das Tier veräußern; 
 
Alternative 3:
die Behörde kann das Tier auf Kosten des Halters unter Vermeidung von Schmerzen töten lassen, wenn die Veräußerung des Tieres aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich ist oder das Tier nach dem Urteil des beamteten Tierarztes nur unter nicht behebbaren erheblichen Schmerzen, Leiden oder Schäden weiterleben kann,

Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fortnahmeverfügung ist vor allem zu berücksichtigen, dass bei der Beantwortung der Frage, ob die Anforderungen des § 2 TierSchG erfüllt sind, den verbeamteten Tierärzten vom Gesetz eine vorrangige Beurteilungskompetenz eingeräumt ist. Das Gericht überprüft, ob sich die Beurteilungen der zuständigen Amtstierärzte innerhalb der rechtlichen Vorgaben bewegen und unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers fachlich vertretbar sind. In einem exakten Nachweisen nur begrenzt zugänglichen Bereich einzelfallbezogener Wertungen kommt ihrer fachlichen Beurteilung daher besonderes Gewicht zu (OVG Niedersachsen, Urt. v. 20.04.2016 – 11 LB 29/15 –, juris Rn. 39). Die vorgenommenen amtstierärztlichen Wertungenkönnen nicht durch schlichtes Bestreiten entkräftet werden (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 28.06.2010 – OVG 5 S 10.10 –, juris Rn. 9).

a) § 2 Nummer 1 TierschG:

Allgemeine Rechtsgrundlage für Maßnahmen nach § 16a TierschG ist § 2 Nr. 1 TierschG. Die Nummer 1 hat geringere Anforderungen als Nr. 2.

Nach § 2 Nr. 1 TierSchG muss, wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen. 

Die Vorschrift des § 2 Nr. 1 TierSchG will als Grundnorm der Tierhaltung im Sinne eines Bedarfsdeckungs- und Schadenvermeidungskonzepts sicherstellen, dass die Haltungsform artgemäß ist und die entsprechenden Bedürfnisse der Tiere nicht unangemessen zurückgedrängt werden. Bei der Erfüllung dieses Tatbestandes kommt es im Unterschied zu § 2 Nr. 2 TierSchG nicht darauf an, ob den Tieren Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt worden sind (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss v. 3.8.2009 – 11 ME 187/09 -, juris, Rn. 26, m.w.N.).

Im Einzelnen kann dahinstehen, unter welchen Oberbegriff eingeordnet wird. Es ist anerkannt, dass diejenigen Grundbedürfnisse eines Tieres, die sich einem der in der Fachwissenschaft entwickelten sechs Funktionskreise zuordnen lassen, von den in § 2 Nr. 1 TierSchG genannten Oberbegriffen umfasst sind. Zu diesen Funktionskreisen zählt u.a. das Sozialverhalten des Tieres (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O.). Bestes Beispiel hierfür ist damit ein etwaiges Bedürfnis nach sozialem Kontakt zu Artgenossen.

Maßstab für die im Einzelfall zu bestimmenden Verhaltensbedürfnisse eines Tieres ist dabei nicht das Verhalten des Tieres in seinem derzeitigen – ggf. maßgeblich vom Menschen geprägten – Umfeld, sondern das Verhalten, das von Wildtieren der gleichen Art und Rasse unter natürlichen Bedingungen, d.h. bei einem Leben in Freiheit, üblicherweise gezeigt wird (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O., § 2, Rn. 9 m.w.N.). 

Eine Unterbringung ist daher nicht schon dann verhaltensgerecht, wenn das Tier zwar überleben kann und keine Leiden, Schmerzen oder andere Schäden davonträgt, es aber seine angeborenen Verhaltensmuster ändern und an seine Haltungsbedingungen anpassen muss, dass es praktisch mit seinen wildlebenden Artgenossen nicht mehr viel gemeinsam hat (Schleswig-Holsteinisches OVG, Urt. v. 28.06.1994 – 4 L 152/92 -, juris, Rn. 27). Besonders an die Haltung wildlebender Arten sind insoweit hohe Anforderungen zu stellen (vgl. OVG Niedersachsen, Beschluss. v. 12.7.2011 – 11 LA 540/09 -, juris, Rn. 18).

b) § 2 Nummer 2 TierschG

Nach § 2 Nr. 2 TierSchG darf der Tierhalter die Möglichkeit des Tieres zur artgemäßen Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden. Die in § 2 TierSchG geregelten allgemeinen Anforderungen an die art- und bedürfnisgerechte Haltung von Tieren können u.a. durch europarechtliche Vorgaben konkretisiert werden (OVG Niedersachsen, Beschluss. v. 29.7.2019 – 11 ME 218/19 -, NordÖR 2019, 607, juris, Rn. 6).

Beispiel: Die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien 64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97 (ABl. 2005 L 3 S. 1) – VO (EG) 1/2005.

c) Weitere Voraussetzungen des § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierschG

aa) Verhaltensstörung

Eine Verhaltensstörung ist eine im Hinblick auf Modalität, Intensität oder Frequenz erhebliche und andauernde Abweichung vom Normalverhalten. 

(1) Maßstab

Maßstab für das Normalverhalten sind diejenigen Verhaltensabläufe, die von Tieren der betreffenden Art, Rasse und Altersgruppe unter natürlichen oder naturnahen Haltungsbedingungen gezeigt werden. Abweichungen vom Normalverhalten können sich in verschiedener Hinsicht ergeben. Neben nach außen deutlich erkennbaren abnormen Verhaltensweisen wie Stereotypien, Handlungen am nicht-adäquaten Objekt, veränderten abnormen Bewegungsabläufen oder Apathien kann eine Verhaltensstörung auch dann zu bejahen sein kann, wenn ein erzwungenes Nichtverhalten besteht (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O., § 17, Rn. 97-100). Eine Verhaltensstörung durch erzwungenes Nichtverhalten liegt dann vor, wenn die Haltungsbedingungen zum Ausfall oder zu starker Reduktion arttypischer Verhaltensweisen führen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dem Tier das Verhalten physisch unmöglich gemacht wird oder ob das Tier das Verhalten infolge fehlender Umweltreize einstellt oder stark reduziert (Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O., § 17, Rn. 100).

(2) schwerwiegend

Die etwaig vorliegende Verhaltensstörung muss auch als schwerwiegend einzustufen sein.

Definition:

Eine Verhaltensstörung dann als schwerwiegend anzusehen, wenn ihr vor dem Hintergrund des gesamten durchschnittlichen Verhaltensspektrums eines Tieres der betroffenen Rasse nach Art oder Dauererhebliches Gewicht zukommt (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O., § 16 a, Rn. 22). 

Demnach kann die Fortnahme eines Tieres einerseits bereits bei einer nur geringfügigen Verhaltensstörung gerechtfertigt sein, die der Halter oder Betreuer allerdings über erhebliche Zeiträume hinnimmt und nicht durch die Schaffung von den Anforderungen des § 2 TierSchG entsprechenden Haltungsbedingungen abzustellen bereit oder in der Lage ist. 

Andererseits kann sich eine Fortnahme auch im Falle einer erheblichen Verhaltensstörung verbieten, wenn diese im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung zwar vorliegt, aber erst kürzlich aufgetreten ist und prognostisch festgestellt werden kann, dass sie nach einer kurzfristig und mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Anpassung der Haltungsbedingungen an die Anforderungen des § 2 TierSchG wieder vergeht.

Auf eine lediglich erhebliche Verhaltensstörung kommt es dabei nicht an. Der Begriff „erheblich“ bedarf nur eine bestimmte Intensität, nicht aber ein zeitlicher Aspekt umfasst ist. Eine entsprechende Differenzierung weist das Tierschutzgesetz im Hinblick auf Verhaltensstörungen aber nicht auf. Hätte der Gesetzgeber die Befugnis zur Fortnahme eines Tieres allein von einem bestimmten Intensitätsgrad einer Verhaltensstörung abhängig machen wollen, hätte er nicht eine schwerwiegende, sondern eine erhebliche Verhaltensstörung als Tatbestandsvoraussetzung formuliert.

d) Verhältnismäßigkeit

Nach § 16 a Abs. 1 Satz 1 TierSchG trifft die Behörde die zur Beseitigung festgestellter und zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Der Wortlaut dieser Norm spricht dafür, dass der Behörde kein Entschließungsermessen zusteht, sondern dass sie bei festgestellten oder drohenden Verstößen gegen das Tierschutzgesetz nicht untätig bleiben darf, sondern einschreiten muss. Das „Wie“ des Einschreitens, d.h. die Wahl der konkreten Maßnahmen, steht dabei im Ermessen der Behörde. Ihr Auswahlermessen wird durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet und beschränkt (vgl. Hirt/Maisack/Moritz, a.a.O., § 16 a, Rn. 5 f. m.w.N.).

Insbesondere: Lebensalter:

Eine Fortnahme kann sich beispielsweise als unverhältnismäßig erweisen, wenn die noch zu erwartende Lebenszeit des Tieres die Zeit, die für eine Resozialisierung benötigt wird, unterschreitet. Einer nur noch geringen Lebenserwartung kommt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein ganz erhebliches Gewicht zu, welches insbesondere angesichts des Risikos einer langen Resozialisierungsphase gegen eine Abgabe des Tieres spricht.

e) Einstweiliger Rechtsschutz bei sofortiger Vollziehung

(1) Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 VwGO

Soweit die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wird, ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 2 VwGO statthaft. 

(2) Androhung der Anwendung unmittelbaren Zwangs

Hinsichtlich der darüber hinaus etwaig angedrohten Anwendung unmittelbaren Zwangs für den Fall der Nichtbefolgung der Duldungsanordnung ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 Var. 1 VwGO statthaft, da einem Widerspruch gegen diese Vollzugsmaßnahme bereits von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO).

RA Dipl. iur. Marc Heidemann

RA Marc Heidemann konzentriert sich auf das Verwaltungsrecht und deckt eine breite Palette an verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten ab. Seine Schwerpunkte liegen insbesondere im Waffenrecht, Denkmalschutzrecht und Baurecht. Bei verwaltungsrechtlichen Fragen bietet er zudem Unterstützung im Arbeits- und Zivilrecht. Entdecken Sie sein Fachwissen für Ihre rechtlichen Belange.

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