Bei der Bemessung der Abstandsflächen bleiben Vorbauten außer Betracht. Die Frage in der Praxis ist bisweilen, was genau unter einem Vorbau respektive einem untergeordneten Bauteil zu verstehen ist.
Definition des Vorbaus
Inhaltsverzeichnis
Nach allgemeiner Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur, muss es sich bei einem Vorbau – abhängig von jeweiligen landesrechtlichen Ausgestaltung – um einen unselbstständigen Teil der Außenwand handeln, der in unmittelbarer, gestalterischer und auch funktionaler Beziehung zu dem Gebäude und der Außenwand steht. Ein Vorbau darf nach seinem Gesamteindruck, d.h. nach seinem Umfang (Baumasse), seiner Nutzung und seiner Konstruktion zu dem jeweiligen Gebäude und der Außenwand nicht erheblich ins Gewicht fallen. Der erste Eindruck muss das Gesamtvorhaben, insbesondere die Außenwand erfassen, und darf nicht unmittelbar auf die Bauteile oder Vorbauten gelenkt werden (vgl. Dohm/Franz/Rauscher, a.a.O., Art. 6 Rn 392 m.w.N.; Schenk, a.a.O., Rn Kap 3 Rn 140 m.w.N.).
Auch wenn in einzelnen Bundesländern die Unterordnung nicht ausdrücklich vorausgesetzt wird, ist diese Voraussetzung jedoch allgemein anerkannt.
Die Regelungen in den einzelnen Bundesländern
Bundesland | Norm | Wortlaut |
Schleswig-Holstein, Sachsenanhalt, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, | § 6 Absatz 6 Nr. 2 Landesbauordnung | „Vorbauten“ |
Bayern | § 6 Absatz 6 Nr. 2 BayBO | „untergeordnete Vorbauten wie Balkone und eingeschossige Erker“ sowie: „wenn sie insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der Außenwand des jeweiligen Gebäudes, höchstens jeweils 5 m, in Anspruch nehmen“ |
Baden-Württemberg | § 5 Absatz 6 Nr. 2 LBO | „Vorbauten wie Wände, Erker, Balkone, Tür- und Fenstervorbauten“ Sowie „wenn sie nicht breiter als 5 m sind, nicht mehr als 1,5 m vortreten und von Nachbargrenzen mindestens 2 m entfernt bleiben“ |
Hessen | § 6 Absatz 6 Satz 1HBO | Untergeordnete Bauteile, insbesondere Gesimse und Dachvorsprünge, Hauseingangstreppen, deren Überdachungen und Erker und Balkone |
Bremen | § 6 Absatz 6 BremLBO | „untergeordnete Vorbauten wie eingeschossige Erker und Balkone“ zudem: „vor die Außenwände vortretende Bauteile wie Gesimse und Dachüberstände, nicht überdachte Terrassen, überdachte Terrassen sowie untergeordnete eingeschossige Wintergärten, die nicht zum dauernden Aufenthalt geeignet sind und nicht in offener Verbindung zu einem Aufenthaltsraum stehen |
Hamburg | § 6 Absatz 6 Nr. 2 HBauO | „Vorbauten einschließlich Balkone“ |
Brandenburg | § 6 Absatz 7 BbgBO | „untergeordnete Vorbauten, wie Wintergärten, Balkone, andere Vorbauten, nachträglich angebrachte Außenwandverkleidungen“ Sowie: „Vorbauten sind untergeordnet, wenn ihre Gesamtbreite ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand nicht überschreitet.“ |
NRW | § 6 Absatz 7 BauO NRW | „Vorbauten wie Erker, Balkone, Altane, Treppenräume und Aufzugsschächte“ |
Saarland | § 7 Absatz 6 Nr. 2 BauO Saarland | „Vorbauten“ |
Thüringen | § 6 Absatz 6 Nr. 2 Thüringer Bauordnung | „Vorbauten, wie Balkonen, Erkern, Treppen, Treppenräumen und Aufzügen“ |
Rheinland-Pfalz | § 8 Absatz 5 Satz 2 LBauO | „untergeordnete Vorbauten wie Erker und Balkone“ |
Niedersachsen | § 5 Absatz 3 Nr. 2 NBauO | „Eingangsüberdachungen, Hauseingangstreppen, Balkonen, sonstigen Vorbauten und anderen vortretenden Gebäudeteilen“ |
Was passiert, wenn mein Vorbau nicht privilegiert ist?
Bauteile und Vorbauten, die nicht privilegiert sind, sind als Bestanteile des Gebäudes den für Außenwände geltenden Regelungen über die durch sie ausgelösten Abstandsflächen unterworfen (vgl. OVG Münster, Urt. v. 07.12.1998 – 7 A 2822/96; Beschl. v. 30.03.2004 – 7 B 2430/03 – jeweils juris; zu der insoweit vergleichbaren Rechtslage nach der BauO NRW; Schenk, in: Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, 2004, Kap. 3 Rn 143 m.w.N.).
Auslegung der Ausnahmeregelungen: enge Auslegung
Bei der Prüfung, ob ein an der Außenwand eines Gebäudes angebrachtes bauliches Element einen Vorbau darstellt, ist der Sinn und Zweck der Regelungen in den jeweiligen Landesbauordnungen zu beachten.
Bei der abstandsflächenrechtlichen Privilegierung von Bauteilen und von Vorbauten handelt es sich in allen Bundesländern um einen Ausnahmetatbestand von dem Grundsatz der Abstandsflächenforderung.
Er ist daher in Zweifelsfällen eng auszulegen (vgl. Schenk, in: Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, 2004, Kap. 3 Rn 140 m.w.N.).
Abgrenzungsfrage: funktionale Unterordnung?
Aus den Vorschriften zur Privilegierung von Vorbauten ergibt sich im Sinne der Auslegung, dass ein Vorbau funktional und baulich von untergeordneter Bedeutung sein muss.
Die Bauteile sollen ihrer Funktion nach als Bestandteil zu einem übergeordneten Ganzen im Sinne einer funktionalen Einheit beitragen und werden gerade deshalb privilegiert.
Hat das Bauteil einen funktional selbstständigen Charakter?
Hat hingegen ein Bauteil in Bezug auf seine Funktion einen selbstständigen Charakter, dann hat dieses Bauteil die Eigenschaft einer baulichen Anlage. Bezugsmaßstab für die einzelfallbezogen vorzunehmende und am üblichen Erscheinungsbild zu orientierende Beurteilung, ob ein abstandsflächenrechtlich privilegierter untergeordneter Gebäudeteil vorliegt, ist nicht die gesamte „Baumasse“, sondern die Außenwand, vor die das Bauteil vortritt. Als Elemente der architektonischen Gestaltung dürfen untergeordnete Bauteile in ihrer optischen Wirkung nicht derart in den Vordergrund treten, dass die zurückbleibende – Abstand haltende – Fassade nur noch als Träger oder Rahmen für die vortretenden Gebäudeteile wahrgenommen wird (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 21.05.2003 – 2 Bf 80/99 – juris). Neben diesen quantitativen Aspekten muss zusätzlich eine funktionale Unterordnung vorliegen (vgl. Domning/Möller/Bebensee, Kommentar zur LBO, 3. Aufl. 11. EL 2010, § 6 Rn 76 f. m.w.N.; Schenk, in: Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, 2004, Kap. 3 Rn 140).
Fehlende funktionale Unterordnung bei notwendigen Treppen
Der Gesetzgeber hat die Abstandsfläche nur für funktional untergeordnete Zwecke in begrenztem Umfang freigegeben. Von einer solchen funktionalen Unterordnung kann aber nicht bei einer solchen Treppenanlage ausgegangen werden, wenn sie notwendig ist, um die Nutzung der Dachfläche des Wohngebäudes als Dachterrasse überhaupt erst zu ermöglichen (vgl. OVG Münster, Urt. v. 17.01.2008 – 7 A 2761/06 – juris, für eine Außentreppe, die der Schaffung eines zweiten Rettungsweges dient und damit notwendig ist, um eine funktionsgerechte Nutzung von Wohnungen im Obergeschoss zu ermöglichen; vgl. auch Dohm/Franz/Rauscher, in: Simon/Busse, BayBO, 114. EL 2013, Art. 6 Rn 400 f. m.w.N.; wonach eine unzulässige Erweiterung einer Gebäudenutzung durch Bauteile oder Vorbauten auch dann vorliegt, wenn diese als außenliegende Treppen notwendige Wohnungszugänge darstellen).
Kurzfazit mit Praxishinweis – Vorbauten im Abstandsflächenrecht
Kurzfazit:
Vorbauten im Sinne des Abstandsflächenrechts sind baulich und funktional untergeordnete, gestalterisch integrierte Teile der Außenwand, die in ihrem Umfang, ihrer Nutzung und Wirkung nicht erheblich ins Gewicht fallen dürfen. Ihre Privilegierung stellt eine Ausnahme vom Grundsatz der Abstandsflächenpflicht dar und ist deshalb eng auszulegen. Entscheidend sind eine klare funktionale Unterordnung und die untergeordnete optische Wirkung des Bauteils. Fehlt diese Unterordnung – etwa bei notwendigen Treppen oder selbstständig nutzbaren Bauteilen – liegt kein privilegierter Vorbau vor.
Praxishinweis:
Prüfen Sie bei jedem Bauteil an der Außenwand mit gesundem Menschenverstand , ob es tatsächlich nur ein „dienendes“ Element ist oder bereits eigenständige Funktionen übernimmt. Achten Sie insbesondere auf Breite, Tiefe, Entfernung zur Grundstücksgrenze sowie Nutzung. Im Zweifel ist der Vorbau nicht privilegiert – und löst reguläre Abstandsflächen aus. Dokumentieren Sie bei der Bauplanung stets die funktionale und gestalterische Einbindung des Vorbaus zur Vermeidung von Konflikten mit der Bauaufsicht.
Rechtsanwalt Marc Heidemann, Schwerpunkt Verwaltungsrecht