Verfahrensmängel nach § 108 Absatz 1 VwGO: Verstoß gegen das Selektionsgebot und Verstoß gegen Denkgesetze

Voraussetzungen eines beachtlichen Verfahrensmangels

Ein nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO beachtlicher Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat. Es reicht nicht aus, dass das Gericht zu einer anderen Würdigung des Prozessstoffs kommt, als es sich der Kläger gewünscht hätte. Die Beweiswürdigung muss vielmehr in sich schlüssig, umfassend und nachvollziehbar sein.

Verstoß gegen das Selektionsgebot

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.

Aus dem Begriff „Gesamtergebnis“ folgt, dass sich das Gericht seine Überzeugung auf der Grundlage des vollständigen Prozessstoffes bilden muss. Es darf bei seiner Überzeugungsbildung nicht einzelne Umstände und Elemente außer Acht lassen, sofern sie für die Entscheidung rechtlich relevant sind.

Es besteht insoweit ein Selektionsverbot (vgl. Urteil vom 31. Juli 2002 – BVerwG 8 C 37.01 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 = juris Rn. 41; Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 108 Rn. 24, 25 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung).

Ein Gericht verstößt gegen dieses Selektionsverbot, wenn es offenbar gewordene entscheidungserhebliche Umstände oder Erkenntnisquellen gar nicht oder nur teilweise heranzieht, indem es etwa nur einen bestimmten Teil eines Gutachtens berücksichtigt oder nicht alle Aussagen eines Zeugen einbezieht.

Maßgeblich für die Beurteilung eines Verstoßes gegen das Selektionsgebot sind die Entscheidungsgründe. Die bloße Tatsache, dass bestimmte Umstände in den Entscheidungsgründen nicht explizit erwähnt werden, zwingt nicht bereits zur Annahme eines Verstoßes. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht seiner Pflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nachgekommen ist und seiner Entscheidung das Vorbringen der Beteiligten sowie den festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrunde gelegt hat.

Das Gericht kann sich auf die Angabe der wesentlichen Gründe beschränken. Wenn es jedoch gewichtige Tatsachen oder Tatsachenkomplexe, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt, unerwähnt lässt, verstößt es gegen das Selektionsverbot (Urteile vom 25. März 1987 – BVerwG 6 C 10.84 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183 und vom 18. Juni 1970 – BVerwG 5 C 128.69 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 48).

Verstoß gegen Denkgesetze

Neben dem Selektionsgebot kann eine fehlerhafte Beweiswürdigung auch gegen Denkgesetze verstoßen. Ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt dann vor, wenn das Gericht Denkgesetze (logische Grundsätze), gesetzliche Beweisregeln oder allgemeine Erfahrungssätze missachtet oder eine objektiv willkürliche oder aktenwidrige Sachverhaltswürdigung vornimmt (BVerwG, Urteile vom 14. Dezember 2020 – 6 C 11.18 – BVerwGE 171, 59 Rn. 40 und vom 2. März 2022 – 6 C 7.20 – BVerwGE 175, 76 Rn. 40, Beschluss vom 11. Juni 2024 – 6 B 1.24 – juris Rn. 25, jeweils m. w. N.).

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner Beweismittel. Es gibt keine Rangordnung zwischen Beweismitteln; sie sind grundsätzlich gleichwertig. Die Verwaltungsgerichte müssen den Aussage- und Beweiswert der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffs nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Dabei sind sie lediglich an Denkgesetze und Naturgesetze gebunden. Sie müssen logische Widersprüche, gedankliche Brüche und unhaltbare Schlussfolgerungen vermeiden (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 30.05 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 Nr. 50 Rn. 16 m.w.N.).

Kein Verstoß allein wegen einer für den Kläger ungünstigen Entscheidung

Wichtig ist jedoch: Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nicht bereits dann vor, wenn die Beweiswürdigung nicht zu Gunsten des Klägers ausfällt. Die Beweiswürdigung muss vielmehr umfassend, nachvollziehbar und vertretbar sein. Solange das Gericht seine Entscheidung auf eine schlüssige und in sich konsistente Argumentation stützt, liegt kein Verfahrensmangel vor. Nur wenn das Gericht die Grenzen logischer Argumentation überschreitet oder sich in widersprüchliche oder aktenwidrige Annahmen verstrickt, ist ein Verstoß gegen Denkgesetze anzunehmen.

Fazit

Zusammenfassend zeigt sich, dass ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung vorliegen kann , wenn das Gericht entweder gegen das Selektionsgebot verstößt, indem es entscheidungserhebliche Umstände nicht einbezieht, oder gegen Denkgesetze, indem es eine widersprüchliche oder objektiv unhaltbare Würdigung vornimmt. 

Es reicht nicht aus, dass das Gericht eine für den Kläger ungünstige Entscheidung trifft – vielmehr muss die Beweiswürdigung insgesamt nachvollziehbar, umfassend und vertretbar sein. Die gerichtliche Entscheidung darf nicht auf fehlerhaften logischen Schlussfolgerungen oder unvollständiger Tatsachengrundlage beruhen.

RA Heidemann, Rechtsanwalt Verwaltungsrecht

RA Dipl. iur. Marc Heidemann

Marc Heidemann ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Verwaltungsrecht und in Hamburg tätig. Seine juristische Ausbildung absolvierte er an der Universität Hamburg, wo er sich intensiv mit den Bereichen Rechtspflege, Internationales Privatrecht, Insolvenzrecht sowie Zwangsvollstreckungs- und Kreditsicherungsrecht befasste. Sein Referendariat führte ihn an das Oberlandesgericht Celle mit einer verwaltungsrechtlichen Spezialisierung am Verwaltungsgericht Stade, insbesondere in den Bereichen Gewerberecht, Öffentliches Baurecht und Landwirtschaftsrecht. Zusätzlich erwarb er eine verwaltungsrechtliche Zusatzqualifikation an der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. In seiner anwaltlichen Tätigkeit berät und vertritt Marc Heidemann Mandanten in verschiedenen Bereichen des Verwaltungsrechts. Schwerpunkte sind unter anderem das Waffenrecht, das Denkmalschutzrecht, das Schulrecht und das Baurecht. Er prüft die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, begleitet Genehmigungsverfahren und vertritt Mandanten vor den zuständigen Verwaltungsgerichten. Dabei geht es oft um Fragen zu behördlichen Entscheidungen, die Auswirkungen auf die berufliche oder private Situation der Betroffenen haben. Marc Heidemann ist Mitglied der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer Hamburg und setzt sich kontinuierlich mit aktuellen Entwicklungen im Verwaltungsrecht auseinander. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachartikel zu verwaltungsrechtlichen Themen.

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