Anforderung an die Erfolgsaussichten im einstweiligen Rechtschutz bei Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten

Es kommt nicht selten vor, dass bauliche Anlagen ohne Genehmigung errichtet oder genutzt werden. Nachbarinnen und Nachbarn, die sich in ihren Rechten verletzt sehen, können in solchen Fällen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ein bauaufsichtliches Einschreiten der Behörden beantragen. Doch wie hoch sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines solchen Eilantrags? Dieser Beitrag beleuchtet die rechtlichen Voraussetzungen und die aktuelle verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur einstweiligen Anordnung bei nicht genehmigten baulichen Anlagen.

Rechtliche Grundlage für den einstweiligen Rechtsschutz 

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Ge- walt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO, dass die Antragstellerin die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sowie das Bestehen des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), glaubhaft macht.

Zwar entspricht der Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten dem Begehren, das auch in einer Hauptsache verfolgt werden würde. Selbst wenn die begehrte Nutzungsuntersagung im Falle des Obsiegens nur für einen befristeten Zeitraum ergehen würde, würde die Antragstellerin für diesen Zeitraum so gestellt wie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache, die Nutzungsuntersagung wäre insoweit endgültig, weil sie sich für den betroffenen Zeitraum nicht mehr rückgängig machen ließe, sollte die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren unterliegen. 

Vorwegnahme der Hauptsache und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen 

Eine solche zeitweise Vorwegnahme der Hauptsache ist nicht verboten, setzt aber grundsätzlich voraus, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) schlechterdings unabweisbar ist, sie erfordert mithin hohe Erfolgsaussichten, also eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs in der Hauptsache, sowie schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile im Falle des Abwartens in der Hauptsache (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 6.7.2018, 3 Bs 97/18, juris Rn. 35 m.w.N.). 

Gleichzeitig gebietet das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aber auch, die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und -grundes in Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes, in denen die Antragstellerin ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen eine nicht genehmigte bauliche Anlage begehrt, nicht so streng zu gestalten, dass der Rechtsschutz faktisch leerliefe, weil die Schaffung vollendeter Tatsachen, welche die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen und im Falle des Obsiegens in der Hauptsache nicht oder kaum noch zu beseitigen sind, nicht effektiv verhindert werden könnte (im Ergebnis ebenso für nicht genehmigungsbedürftige Bauvorhaben VGH Mannheim, Beschl. v. 26.10.1994, 8 S 2763/94, juris Rn. 8; VGH München, Beschl. v. 26.7.1996, 1 CE 96.2081, NVwZ 1997, 923; OVG Bautzen, Beschl. v. 22.8.1996, 1 S 473/96, NVwZ 1997, 922; OVG Münster, Beschl. v. 2.10.1998, 11 B 845/98, juris Rn. 8 ff.; OVG Greifswald, Beschl. v. 9.4.2003, 3 M 1/03, juris Rn. 12; OVG Magdeburg, Beschl. v. 15.8.2018, 2 M 65/18, juris Rn. 9). 

Ausnahmsweise Übertragung der Grundsätze aus dem Genehmigungsrecht 

Das VG Hamburg hält es deshalb für geboten, in solchen Verfahren die zum vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Baugenehmigung nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO entwickelten Grundsätze entsprechend anzuwenden. Es darf nicht zu einer Verkürzung des Rechtsschutzes der Nachbarinnen und Nachbarn führen, wenn eine bauliche Anlage ohne die erforderliche Baugenehmigung genutzt wird.

Gleichbehandlung mit dem Rechtsschutz gegen Baugenehmigungen 

Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, die Nachbarinnen und Nachbarn im Hinblick auf den vorläufigen Rechtsschutz in diesem Fall schlechter zu stellen, als wenn eine – möglicherweise rechtswidrige – Baugenehmigung erteilt worden wäre (vgl. zu sogenannten freigestellten Bauvorhaben OVG Bautzen, Beschl. v. 22.8.1996, 1 S 473/96, NVwZ 1997, 922; VG Regensburg, Beschl. v. 18.5.2022, RN 6 S 22.106, juris

Rn. 42).

Erfolgsmaßstab: Rechtswidrigkeit oder nur offene Erfolgsaussichten 

Ein Anordnungsanspruch kann bereits bestehen, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen erscheinen und die Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfällt. Es genügt, dass die Nutzung der baulichen Anlage hinreichend möglich rechtswidrig ist und die Antragstellerin durch die Nutzung in nachbarschützenden Vorschriften verletzt sein könnte. Das Risiko für eine irreparable Rechtsverletzung rechtfertigt insoweit die vorläufige Regelung.

Ein Anordnungsanspruch kann danach nicht nur in Betracht kommen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass die Nutzung der baulichen Anlage rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren subjektiven Rechten verletzt, sondern bereits, wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen erscheinen und eine Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausfällt. 

Da eine Baugenehmigung bereits dann rechtwidrig ist und die Nachbarin in ihren Rechten verletzt, wenn sie hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Maßnahmen unbestimmt ist und eine Verletzung nachbarschützender Rechte infolgedessen nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 2.9.2011, 2 Bs 136/11, juris Rn. 6), kann deshalb eine einstweilige Anordnung im Hinblick auf ein bauaufsichtliches Einschreiten bereits dann ergehen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass eine Verletzung der Antragstellerin in nachbarschützenden Vorschriften durch die ungenehmigte Nutzung hinreichend möglich erscheint.

Fazit: Rechtsschutz darf nicht leerlaufen

Das einstweilige Verfahren nach § 123 VwGO ist ein zentrales Instrument zur Abwehr unzumutbarer Rechtsverletzungen durch ungenehmigte bauliche Maßnahmen. Die Gerichte sind gehalten, den Rechtsschutz in diesen Fällen nicht durch zu hohe Anforderungen faktisch zu versagen. Vielmehr sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Einbeziehung der Interessenlage realistisch zu bewerten – selbst wenn eine gewisse Vorwegnahme nicht zu vermeiden ist. Nur so kann effektiver Rechtsschutz im Sinne des Grundgesetzes gewährleistet werden.

Rechtsanwalt Marc Heidemann, Schwerpunkt Verwaltungsrecht

RA Dipl. iur. Marc Heidemann

Marc Heidemann ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Verwaltungsrecht und in Hamburg tätig. Seine juristische Ausbildung absolvierte er an der Universität Hamburg, wo er sich intensiv mit den Bereichen Rechtspflege, Internationales Privatrecht, Insolvenzrecht sowie Zwangsvollstreckungs- und Kreditsicherungsrecht befasste. Sein Referendariat führte ihn an das Oberlandesgericht Celle mit einer verwaltungsrechtlichen Spezialisierung am Verwaltungsgericht Stade, insbesondere in den Bereichen Gewerberecht, Öffentliches Baurecht und Landwirtschaftsrecht. Zusätzlich erwarb er eine verwaltungsrechtliche Zusatzqualifikation an der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. In seiner anwaltlichen Tätigkeit berät und vertritt Marc Heidemann Mandanten in verschiedenen Bereichen des Verwaltungsrechts. Schwerpunkte sind unter anderem das Waffenrecht, das Denkmalschutzrecht, das Schulrecht und das Baurecht. Er prüft die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, begleitet Genehmigungsverfahren und vertritt Mandanten vor den zuständigen Verwaltungsgerichten. Dabei geht es oft um Fragen zu behördlichen Entscheidungen, die Auswirkungen auf die berufliche oder private Situation der Betroffenen haben. Marc Heidemann ist Mitglied der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer Hamburg und setzt sich kontinuierlich mit aktuellen Entwicklungen im Verwaltungsrecht auseinander. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachartikel zu verwaltungsrechtlichen Themen.

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